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Rubbel die Gans

Leckeres Päckchen

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Zu Weihnachten 1945 sehnten sich viele nach einer Gans.

Wie eine Gans doch noch im Ofen landete

Weihnachten 1945: Endlich war Frieden auf Erden. Auch in meinem Elternhaus herrschte vorweihnachtliche Geschäftigkeit. Nur die eigentlich heiß ersehnte Weihnachtsgans schmorte nicht im Backofen– sie war (noch) zu wertvoll und darum blieb sie am Leben. Der Heilige Abend wurde durch die Christvesper in der Kirche im Nachbardorf eingeleitet. Bei dem klaren Wetter beschloss die Familie, den drei Kilometer langen Weg dorthin zu Fuß zu gehen. Mutter und Vater blieben daheim.Auf halber Strecke kam uns ein einsamer Wanderer entgegen. „Ach, können Sie mir sagen, wann der nächste Zug abfährt?“, erkundigte er sich. Der Bahnhof war noch etwa vier Kilometer entfernt. Wollte er den Zug noch erreichen, musste er sich beeilen. Und dabei hatte er noch ein dickes, in Packpapier zusammengeschnürtes Päckchen dabei. Der Mann war im übernächsten Dorf bei seiner ehemaligen Freundin gewesen. Zu seinem Erstaunen war man aber mit den Vorbereitungen ihrer Verlobung mit einem anderen Mann beschäftigt gewesen. 

Rubbel die Gans

Leckeres Päckchen-2
© Bennyartist/123RF


Als Trostpflaster hatte man ihm das Päckchen mit auf den Rückweg gegeben, dessen Inhalt er nicht benennen konnte. Zu groß war der Schreck gewesen. Ganz spontan kam darum unser Angebot. „Dann kommen Sie doch mit zu uns! Wir gehen erst zum Gottesdienst und dann zurück nach Hause.“ Schnell wurden bei uns nach der Heimkehr kleine Geschenke für unseren Gast zusammengetragen. Die Männer opferten einen Teil ihrer rationierten Zigaretten. Selbstgemachtes Persipan, Weihnachtsgebäck, Äpfel und sogar etliche Reichsmarkscheine landeten auf seinem Teller. Doch bevor es zur Bescherung kam, betrat der Mann schüchtern die Küche und präsentierte das geöffnete Päckchen– und darin lag eine fette Weihnachtsgans, die nur noch in den Ofen musste. Was für eine Überraschung!

Der Mann blieb dann noch etliche Wochen bei uns. Auch fand er in der nahegelegenen Mühle Arbeit. So richtig froh konnte er aber nicht werden, packte ihn doch das Heimweh nach seinen Angehörigen in Thüringen. Eines Tages machte er sich auf den Weg dorthin. Ein regelmäßiger Briefwechsel entstand aus dieser Freundschaft. Als die Verhältnisse in der DDR immer unerträglicher wurden, stand der Wanderer von 1945 eines Tages wieder bei unseren Eltern vor der Tür und wollte im Westen Fuß fassen. Nach mehreren Versuchen bekam er 1955 eine gute Stelle als Autoverkäufer in Bremen. Und jedes Jahr zu Weihnachten bekamen meine Eltern dann ein Päckchen zugestellt – mit einer fetten Weihnachtsgans als Inhalt.