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City Magazin Wolfsburg - Winter 2017

Puppenspielerin aus Leidenschaft

Puppenspielerin aus Leidenschaft

Im Porträt

Wenn Frau Holle ihre Betten aufschüttelt, dann schneit es auf der Erde. So jedenfalls heißt es in einem der stimmungsvollsten Kinder- und Volksmärchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm. Der beliebte Klassiker wurde für die Weihnachts- und Winterzeit neu inszeniert und erlebte mit Brigitte van Lindt am 5. November eine gefeierte Premiere in der historischen Bollmohrscheune. Auch über die Adventswochen und das Weihnachtsfest hinaus bleibt das grimmsche Märchen den ganzen Winter hindurch ein Highlight im Spielplan der Wolfsburger Figurentheater Compagnie.„Frau Holle“: neu interpretiertBrigitte van Lindt, Puppenspielerin aus Leidenschaft, hat „Frau Holle“ schon mehrfach in verschiedenen Inszenierungen gespielt – nun aber erstmals solistisch. Bei der Gelegenheit wagte sie gleich eine neue Interpretation der Geschichte um die freundliche, fleißige Marie Luise und die freche, faule Marie Sophie. Van Lindts überraschendes Credo: „Kein Mensch ist fehlerfrei. Aus Fehlern lernt man, kann sich ändern und muss deshalb doch nicht gleich für alle Zeiten zum Pech verdammt sein! Dass und wie es tatsächlich auch anders geht, zeige ich anhand der beiden so unterschiedlichen Schwestern in ‚Frau Holle’ auf zeitgemäße Weise. Zwar wird die Fleißige von Frau Holle mit Gold überschüttet und die Faule kommt zunächst als Pechmarie nach Hause zurück. Aber ein positiver Ausgang kann dem Stück doch nur guttun.“

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Mit Andrea Haupt gründete Brigitte van Lindt 1990 die Wolfsburger Figurentheater Compagnie.

Früh übt sich …

1951 im westfälischen Münster geboren – der Vater Prokurist, die Mutter Hausfrau – spielte Brigitte van Lindt schon als Kind mit größter Begeisterung Kaspertheater. „Ein kompletter Satz geschnitzter Handpuppen aus dem Erzgebirge war mein ganzer Stolz. In meinem Kinderzimmer spannte ich zwischen zwei Stühlen eine große Decke und unterhielt mit meinen selbst ausgedachten oder aus dem Leben gegriffenen Geschichten die Kinder aus der ganzen Nachbarschaft. Weil ich natürlich wie im richtigen Puppentheater buntes Licht haben wollte, positionierte ich meine Nachttischlampe hinter den Kulissen und hängte – ganz nach Bedarf – mal ein rotes, mal ein blaues, ein gelbes oder grünes Puppenkleid darüber. Dabei musste ich wohl oder übel in Kauf nehmen, dass das eine oder andere Teilchen darüber hoffnungslos verschmorte – aber immerhin, das Licht zauberte die nötige Atmosphäre“, erinnert sich schmunzelnd van Lindt.

Dass sie später wirklich Puppenspielerin werden sollte, ahnte sie damals noch nicht. Erst Jahre später, während eines Vater-Tochter-Spaziergangs durchs heimische Münster, wurde die Bewunderung einer atemberaubenden Schaufensterdekoration zum Schlüsselerlebnis. „An Ort und Stelle verkündete ich im Brustton der Überzeugung, dass ich genau so etwas Kreatives lernen möchte“, erzählt Brigitte van Lindt und hört ihren Vater noch kopfschüttelnd irgendwas von „brotloser Kunst“ murmeln und schimpfen. Als sie dann auch noch eine spektakuläre Figurenausstellung zum 25-jährigen Bestehen der Bielefelder Puppenspiele besuchte, hatte die alte Begeisterung für das Puppenspiel von ihr voll und ganz Besitz ergriffen. Jeder Widerstand war zwecklos. Und Brigittes Mutter besänftigte ihren Mann zu guter Letzt: „Lass sie doch machen.“

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Die Faszination aus Kindertagen wurde zum Traumberuf. Brigitte van Lindt ist erklärte Puppenspielerin aus Leidenschaft.

Ein Team aus zwei Perfektionistinnen

Auf ein erstes Praktikum und eine umfassende Ausbildung in Schauspiel, Gesang, Stimmbildung, Dramaturgie etc. zur Puppenspielerin bei den Bielefelder Puppenspielen von Hellmut Selje folgten 17 Jahre in dem renommierten Ensemble. Hier lernte Brigitte van Lindt bei der Arbeit in einer gemeinsamen Spielgruppe die zehn Jahre jüngere Kollegin Andrea Haupt kennen und schätzen. Zusammen wagten sie 1990 den Sprung in die Selbstständigkeit und gründeten die Wolfsburger Figurentheater Compagnie. Sie begannen in Heiligendorf, wechselten später in den Antoniensaal des Wolfsburger Schlosses und konnten im August 2000 die Bollmohr-Scheune als festes Domizil beziehen. In mehr als 26 spannenden und erfolgreichen Jahren der Zusammenarbeit ist aus den beiden Perfektionistinnen, die sich harmonisch ergänzen, ein überaus erfolgreiches Team geworden. Die Wolfsburger Figurentheater Compagnie hat die Wolfsburger Kulturlandschaft auf liebenswerte Weise bereichert.

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Als Liesel ist Brigitte van Lindt mit ihrer kessen Puppe Marlene bei den Bewohnern des Hanns-Lilje-Heims überaus beliebt.
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Wo Brigitte van Lindt ist, ist auch die kleine Daisy nicht weit.

Für alle Eventualitäten gewappnet

Brigitte van Lindt streut ein: „Bevor wir in Wolfsburg ansässig wurden, gingen wir noch auf eine siebenwöchige Tournee durch Japan. Sie verschaffte uns einerseits das nötige Startkapital in die Selbstständigkeit und füllte andererseits einen ganzen Koffer mit einzigartigen Erinnerungen. Man muss sich nur mal vorstellen: Wir spielten dort zum Teil auf Japanisch, konnten aber kaum einen Satz frei sprechen. Also versuchten wir nach allen Regeln der Kunst, Fragen ans Publikum zu vermeiden und positionierten Spickzettel – die im japanischen Fernsehen für manchen Lacher sorgten. Und: Welcher Puppen- spieler wurde während seiner Vorstellung schon mal von einem Erdbeben überrascht und hat munter weitergespielt?“ Wer das und vieles andere mehr erlebt hat, ist für alle Eventualitäten bestens gewappnet. Und das ist für das kleine Team der Wolfsburger Figurentheater Compagnie überlebenswichtig. Denn hier geht es das ganze Jahr über richtig rund.

Etwa 90-mal im Jahr öffnet sich für Kinder der Vorhang in der Bollmohrscheune. Die meisten Geschichten werden von Brigitte van Lindt und Andrea Haupt gern zusammen aufgeführt. Doch natürlich hat jede auch ihre Solo-Stücke – so wie Brigitte van Lindt momentan „Frau Holle“. Dazu kommen gut zehn Veranstaltungen für Erwachsene und bundesweit 120 Tournee-Termine von Lörrach bis in die Küstenregionen. Von insgesamt mehr als 50 Produktionen bilden etwa 30 das feste Repertoire des beliebten Mini-Ensembles. Rund 40 000 Kilometer schrubben die beiden Damen mit ihren Tourbussen jährlich runter – ihre beiden Hündinnen Daisy und Tonka sind immer dabei – und erobern mit ihrem Puppenspiel bei Jung und Alt mehr als 25 000 Herzen. Brigitte van Lindt erklärt: „Am liebsten spiele ich für Kinder. Sie sind das ehrlichste, spontanste, kritischste und direkteste Publikum, das man sich wünschen kann. Finden sie etwas langweilig, haben sie keine Hemmung, aufzustehen und zu gehen. Halbherzkeit geht da gar nicht!“

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Improvisationen mit Marlene

Ebenfalls mit ganzem Herzen arbeitet Brigitte van Lindt mit alten Menschen. Im Hanns-Lilje-Heim ist sie als Liesel für die Margarete Schnellecke Stiftung mit ihrer Puppe Marlene regelmäßig zu Gast und zaubert mit ihr immer wieder schnell ein Lächeln in die Gesichter von an Demenz Erkrankten, die sonst nur in ihre eigene Welt versunken scheinen. Brigitte van Lindt erzählt: „Manchmal wird geflirtet und geflunkert, manchmal singe ich ein Lied vor, wenn ich in den einzelnen Wohneinheiten mit Marlene meine Besuche abstatte. Der Ablauf lässt sich nie vorhersagen. Improvisation wird hier großgeschrieben.“

Längst haben die Puppen sich ihren Weg bis ins Privatleben von Brigitte van Lindt gebahnt. Auf dem Dachboden schlummern, sorgsam in Kartons verpackt, mittlerweile mehr als 2000 Kaspertheaterpuppen aus verschiedenen Jahrzehnten und warten auf den Tag X, wenn sie vielleicht bei einer Ausstellung gezeigt werden. (bc) 

Weitere Infos: 

www.wolfsburger-figurentheater.de